„Die Befreiung der Männer“ - von Richard Rohr
Richard Rohr
Mit freundlicher Genehmigung des HERDER-Verlags
Unsere Befreiung als Männer sieht anders aus als die Befreiung der Frauen. Das, was unsere Schwestern bekämpfen, die Kultur des Patriarchats, hat die Frauen in ungemein vielfältiger Weise unterdrückt, während wir Männer das gar nicht bemerkt haben, denn wir waren auf der Gewinnerseite. Wir müssen uns an die Seite unserer Schwestern stellen, um allmählich zu begreifen, worum sie kämpfen. Aber gleichzeitig gibt es eine Reihe von Dingen, die sich auch die Männer erkämpfen müssen, um freiere Menschen zu werden.
Wir Männer im Westen müssen von einer ganzen Anzahl von Erwartungen befreit werden, die unsere überkommene Kultur an uns stellt und die wir auch selbst an uns stellen: dass wir alles mehr als gut hinbringen, dass wir im harten Wettbewerb kämpfen, dass wir konzentriert um etwas kämpfen und daher nicht zimperlich sein können und das wir uns hart uns stark als Kanonenfutter in Kriegen verheizen lassen. Diesen Erwartungsdruck werden wir von Kindheit an ausgesetzt, sowohl von den Frauen als auch von den Männern. Sowohl Männer wie Frauen profitieren davon; aber Männer wie Frauen leiden auch darunter.
Unsere Befreiung besteht darin, dass wir diese Stimmen in unserem Inneren, die uns verlogene Vorstellungen darüber einflüstern, wie Erfolge aussehen, erkennen und ihnen widersprechen. Vielleicht ist diejenige Befreiung sogar noch schwieriger, als die der Frauen. Ich denke, aus diesem Grund sind wir im Prozess der Befreiung so weit im Rückstand. Wer "vorne dran" ist, ist viel mehr verstrickt und blockiert, als wer zu denen unter "ferner liefen" gehört; zumindest sagt das das Evangelium.
In zahlreichen Familien hat die Frau schon weit mehr männliche Eigenschaften erworben, al die meisten von uns Männern weibliche Eigenschaften erworben haben. Viele Männer erkennen intuitiv, dass ihre Frau in vieler Hinsicht viel stärker ist als sie. In vielen Familien kann die Frau das Leben viel besser organisieren und sich um alles kümmern als ihr Mann. Die Frau verfügt über viele weibliche und männliche Qualitäten und ist auf ihre Art sehr viel mehr befreit als der Mann. Der Mann steht am Rand; er verdient das Geld um das ganze System aufrechtzuerhalten; er verdient die Achtung seiner Kinder und seiner Frau, und oft leidet auch sein Selbstwertgefühl.