Großes Leid und große Liebe: Wege zur Transformation
Richard Rohr, OFM
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Heidi Lang für Freundesbrief „Radical Grace"
III-2009
"Denn die Liebe ist stark wie der Tod.
Ihre Glut ist eine feurige Flamme,
Eine Flamme Jahwehs durch und durch."
Hoheslied 8,6
„Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit, und diese Zeit ist voll von Leiden."
Hiob 14,1
Es gab schon immer zwei universelle Hauptwege zur Transformation, die für jeden von Gott erschaffenen Menschen zugänglich sind: Große Liebe und großes Leid. Nur Liebe und Leid sind stark genug, die üblichen Verteidigungsmechanismen unseres Egos nieder zu ringen, unser duales Denken zu durchbrechen, und uns für das Geheimnis zu öffnen. Meiner Erfahrung nach sind sie in der Lage, auf einzigartige Weise die geheimnisvolle Chemie zu verströmen, die uns von einem auf Angst gebauten Leben zu einem Leben hin verwandeln kann, das auf Liebe gegründet ist. Kein Wunder, dass das christliche Symbol der Erlösung so aussieht: ein Mann, der an einem Kreuz hängt, bietet uns seine Liebe an.
Nach Liebe sehnen wir uns, für die Liebe sind wir gemacht - ja, in Wirklichkeit sind wir Liebe, ausgegossen von Gott - und doch ist scheinbar oft eher das Leiden unser Zugang zu diesem Bedürfnis, dieser Sehnsucht und dieser Identität. Liebe und Leid sind die wichtigsten Tore zu den Räumen des Geistes und des Herzens und lassen uns durchdringen zu einer neuen Weite, Tiefe und Gemeinschaft. Wenn wir in dieser umfassenden Liebe sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel höher, dass wir unsere Ego-Steuerung loslassen und offen werden für die ganze Wirklichkeit des Lebens.
Die große Liebe befähigt uns, alles auf's Spiel zu setzen und nichts zurück zu halten. Die Erfahrung des Eins-Werdens oder des Angenommen-Seins von einem anderen, oder von Dem Anderen, überwindet zumindest zeitweise dieses schreckliche Gefühl von Einsamkeit, Getrenntsein und Furcht. Die Begeisterung über diese Einheit hilft uns, unsere Sperren zu öffnen und für eine Weile alle Dinge in einer neuen Art von Ganzheit und Glückseligkeit zu
sehen. Um dieses wundersame Gefühl über einen längeren Zeitraum zu erhalten, und dauerhaft „verliebt" zu bleiben, braucht es noch etwas Zusätzliches - ein gewisses Maß an Mystik, egal ob in Verbindung mit der Natur, dem Bewusstsein oder mit Gott.
Großes Leid lässt uns auf eine andere Weise offen werden. Hier geschieht etwas gegen unseren Willen - was ja aus einem Geschehen überhaupt erst Leiden macht! Mit der Zeit
können wir lernen, unsere Verteidigungshaltung aufzugeben. Die Situation ist, wie sie ist - obgleich wir dabei unweigerlich alle Stadien durchlaufen werden: Verleugnung, Ärger, Verhandeln, Resignation - bis wir schließlich (und hoffentlich) zu einem Stadium der Akzeptanz gelangen. Das Leid fühlt sich womöglich falsch an, endgültig, absurd, ungerecht, unmöglich. Es mag mit körperlichen Schmerzen verbunden sein, oder es liegt einfach außerhalb dessen, was uns bequem erscheint. Wir sollten eine angemessene Haltung zum Leiden üben, denn schon im normalen Alltag haben wir über vieles einfach keine Kontrolle (und wenn es nur die rote Ampel ist). Denken wir immer daran, dass wir den Schmerz, den wir nicht in uns selbst verwandeln, mit Sicherheit weiter tragen und weiter geben werden.
Gewiss, Leiden kann uns in zwei unterschiedliche Richtungen führen. Es kann uns sehr bitter machen und uns völlig verschließen. Oder es macht uns weise, mitfühlend und vollkommen offen; entweder weil unser Herz erweicht wurde, oder vielleicht deshalb, weil wir im Leiden das Gefühl entwickeln, sowieso nichts mehr zu verlieren zu haben. Wir geraten oft derart an den Rand unserer inneren Kräfte, dass wir - auch gegen unseren Willen - „in die Hände des lebendigen Gottes fallen" (Hebr. 10,31). Wir sollten alle um die Gnade dieses zweiten Weges beten, um ein Weich,- und Offen-Werden. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass genau dies mit dem Satz aus dem Vater-Unser gemeint ist: „und erlöse uns von dem Bösen". Wir bitten nicht, um dem Leid auszuweichen. Es ist eher so, als ob wir beten: „Wenn die große Anfechtung kommt, Gott, dann halt mich fest, und lass mich nicht bitter oder vorwurfsvoll werden" - denn sonst entsteht das Böse, das zu vielem anderen Bösen führt.
Wenn wir mit unserem Schatten ringen, wenn wir innere Zerrissenheit und moralisches Versagen erfahren, wenn wir Ablehnung erleiden, Verlassenheit und Erniedrigung, wenn wir jegliche Form von Missbrauch oder Begrenzung erleben, dann sind dies alles Wege in ein tieferes Bewusstsein hinein und zu einem Aufblühen der Seele. Solche Erfahrungen erlauben uns einen außergewöhnlich tiefen Blick hinein in das nackte Hier und Jetzt, denn hier sind wir unmittelbar konfrontiert mit scheinbar unversöhnlichen Widersprüchen. Gewöhnlich sind es gerade die Tränen, die Vergebung und die Annahme, die uns zu einem
kontemplativen Bewusstsein einladen! (Wir können diesen Prozess bei Paulus beobachten, wie er von den Tiefen in Römer 7,14 ausgehend zum Höhepunkt seiner mystischen Dichtung über weite Teile des 8. Kapitels gelangt).
Indem wir bewusst anschauen, wie wir selbst aus Widersprüchen bestehen, werden wir zu lebendigen Zeichen für ein „sowohl/als auch". Wenn wir selbst Gnade annehmen können, folgt fast unweigerlich daraus, dass wir sie an andere weiter geben. (Vgl. die Geschichte vom unbarmherzigen Schuldner in Matthäus 18, 23-53). Wir werden quasi zu Transportleitungen für das, was wir selbst empfangen haben. Wenn wir niemals auf die Gnade angewiesen waren und all die Widersprüche in uns selbst nicht wahrnehmen, dann können wir unser ganzes Leben innerhalb eines mechanistischen Weltbildes verbringen, das durch unser dualistisches Denken zum Gefängnis wird. Ich glaube, dass dies mit der „Sünde gegen den heiligen Geist" gemeint ist. Sie kann deshalb nicht vergeben werden, weil schon die Tatsache, dass wir Gnade oder Vergebung nötig haben, nicht anerkannt wird.
Die große Liebe besitzt die nötige Kraft, erst den Herzensraum und danach den Raum des Geistes aufzutun. Großes Leid wiederum besitzt die nötige Kraft, zuerst den Raum des
Geistes und dann den Herzensraum aufzutun. Letztlich müssen beide Räume geöffnet werden um den Weg für nicht-duales Denken zu bereiten. Menschen, die nie geliebt und nie gelitten haben, versuchen normalerweise, alles mit einer Entweder-Oder Haltung oder einem Alles-Oder-Nichts-Denken zu kontrollieren. Weil sie selbst keine Erfahrung von Gnade und Barmherzigkeit gemacht haben, unterteilen sie die Welt nach den Kategorien „Verdient und Unverdient". Das wiederum macht sie zu bewertenden, fordernden und unversöhnlichen Menschen, die kaum in der Lage sind, Empathie und Sympathie zu entwickeln.
Echte Liebe ist etwas Ganzes, Ungeteiltes. Wie wir an einer Stelle lieben, zeigt, wie wir überhaupt lieben. Jesus gebietet uns, „unseren Nächsten zu lieben, so wie wir uns selbst lieben", und er schafft eine Verbindung zwischen den beiden größten und wichtigsten Geboten der Liebe gegenüber Gott und dem Nächsten indem er sagt, dass eines „gleich" dem anderen ist (Matth. 22,39). Wir meinen oft, dass dies bedeuten soll, dass wir unseren Nächsten mit dem gleichen Maß an Liebe lieben sollen - genauso viel wie uns selbst - wo es doch eigentlich darum geht, dass die Liebe, die es ermöglicht, gleichzeitig mich selbst, die anderen und Gott zu lieben aus der gleichen Quelle kommt und damit die gleiche Liebe ist! Wie ich selbst zur Liebe gelangt bin, prägt meine Art zu lieben.
Wir können einander weder aufrichtig lieben noch unsere gegenseitigen Vergehen verzeihen wenn wir uns innerhalb des dualistischen Bewusstseins befinden. Wir haben den Kindern Gottes einen schlechten Dienst erwiesen, indem wir ihnen das Evangelium gepredigt haben ohne ihnen Wege aufzuzeigen, wie man dem Evangelium gehorchen kann. Jesus drückte es so aus: „Abgeschnitten vom Weinstock könnt ihr nichts tun" (Joh. 15,5). Das Bild vom "Weinstock und den Reben" ist eines der wichtigsten christlich-mystischen Symbole für das nicht-dualistische Wesen Gottes und der Seele. Wenn ich in und bei Gott bin, kann ich alles und jeden lieben - sogar meine Feinde. Allein und auf mich selbst gestellt, lassen es mein Wille und Verstand nur selten zu, über längere Zeit in schwierigen Situationen zu lieben. Unsere Versuche, das zweite Gebot ohne das erste zu befolgen, sind letztlich zum Scheitern verurteilt.
Und schließlich besteht eine direkte Verbindung zwischen Liebe und Leid. Wenn wir wirklich lieben, dann werden wir mit Sicherheit auch bald leiden, denn nun haben wir aufgehört, einander zu kontrollieren. Zweifellos ist das der Grund, warum wir zur Treue gegenüber unseren Geliebten aufgefordert werden, denn solch eine dauerhafte Treue führt unweigerlich dazu, dass unser narzisstisches Selbst der notwendigen Reinigung unterzogen wird (Joh.15,2).
Bevor wir eine Erfahrung des Liebens und Leidens gemacht haben, versuchen wir alle, Leben und Tod mit unserem Verstand zu begreifen. Nach dieser Erfahrung jedoch entspringt eine „größere Quelle" in uns und wir „denken" und fühlen deutlich anders als vorher: „und wir erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft" (Eph. 3,19). Insofern muss Jesus zwangsläufig so etwas sagen wie: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt." (Joh. 13,34). Ich glaube, dass die Liebe von Anfang an der einzige Weg ist, das Tor zum bewussten Dasein und zur Lebendigkeit behutsam zu öffnen. Das Leiden an dieser Liebe wiederum hält das Tor offen und zugänglich für immer größeres Wachstum. Und so sind die beiden wichtigsten Tore, und wir sollten uns hüten, sie verschlossen zu halten.
Für diesen Artikel wurden Auszüge aus dem Buch „The Naked Now: Learning to See as the ystics See" von Richard Rohr, OFM (Herbst 2009, Crossroad Verlag) entnommen und
bearbeitet.